Das vegetative autonome Nervensystem, kurz ANS genannt, hat die Aufgabe, unser Überleben zu sichern, und zwar ohne, dass wir darüber nachdenken müssen. Das ist wichtig, denn wenn wir z.B. als Fußgänger unterwegs sind und plötzlich ein Auto auf uns zu rast, haben wir keine Zeit zum Überlegen und Entscheiden. Hier reagiert unser ANS blitzschnell und versetzt uns in die Lage, reflexartig zur Seite zu springen. Das bedeutet, dass unser ANS bereits entschieden hat, wie unser Körper reagiert und wie wir uns fühlen, noch bevor wir eine Situation bewusst bewerten – und zwar in jeder Lebenslage. Das ANS wacht ununterbrochen auf Signale von Gefahr, Lebensgefahr und Sicherheit, die es aus unserem Körper und der Außenwelt empfängt. Entsprechend der Signale, die empfangen werden, versetzt das ANS den Körper in den Zustand, der das Überleben sichern kann. Dabei ist das Ziel des ANS immer das Gefühl der Sicherheit. Laut Polyvagal-Theorie ist das die wichtigste Voraussetzung für unser Wohlbefinden und unser inneres Gleichgewicht.
Wichtig! Das Gefühl der Sicherheit und des Wohlbefindens kommt vor allem aus unserem Körper und nicht von unserem Verstand. Deshalb wird dieses Bedürfnis auch in unserer modernen Lebenswelt oft viel weniger befriedigt, als uns bewusst ist. Doch wenn wir die Signale, die unseres ANS als sicher einstuft kennen, können wir Einfluss auf die unbewussten Prozesse des ANS nehmen.
Um das zu verstehen müssen wir noch ein bisschen tiefer in die Theorie eintauchen.
Die drei Nervenzweige und eine Bremse – der Schlüssel zur Resilienz
Das ANS besteht aus drei Nervenzweigen, die sich im Laufe der Evolution entwickelt haben. Der hintere Nervenzweig, dorsaler Vagus genannt, ist der älteste Nervenzweig. Er geht auf unsere Wirbeltiervorfahren zurück. Als nächstes ist der sympathische Nervenzweig mit seinem Mobilisierungsmuster entstanden. Ab dieser Entwicklungsstufe war Flucht und Kampf möglich. Der vordere Nervenzweig oder auch ventraler Vagus genannt, ist der neueste der drei Pfade und gibt uns die Möglichkeit für soziale Verbundenheit und Interaktion. Diesen jüngsten Nervenzweig haben nur die Säugetiere.
Unser ANS durchziehen den Körper vom Hirnstamm aus und verzweigt sich in fast allen Organen im Bauchraum. Es spielt dabei eine wichtige Rolle in der Wechselwirkung zwischen Gehirn und Organen.
Der ventrale Vagus
Wenn dieser aktiv ist, fühlen wir uns ruhig und sicher. Wir sind in der Lage, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, ab und zu zu geben, abzuwägen und andere Meinungen und uns zu reflektieren. Wir können Verbundenheit, Vertrauen und auch Liebe spüren. Wir können lösungsorientiert und kreativ handeln und für uns oder gemeinsam mit anderen Ideen entwickeln. Wir stehen in unserer vollem Kompetenz.
Der sympathische Nervenzweig
Nimmt das ANS Signale von Gefahr wahr, wird der sympathische Nervenzweig aktiviert und wir werden sekundenschnell auf Flucht oder Kampf vorbereitet. Stresshormone werden ausgeschüttet, Muskelspannung, Herzschlag und Blutdruck steigen. Körperfunktionen wie z.B. die Verdauung oder die Fähigkeit Nachzudenken wird heruntergefahren. Die Energie geht vom Kopf in den Körper. Der Hör- und Sehsinn wird eingeengt und verändert sich. Soziale Interaktionen sind in diesem Zustand nicht mehr möglich. Wir werden hektisch, agieren aufgeregt ohne Plan und Ziel, Konflikte eskalieren schnell oder wir ziehen uns zurück und resignieren.
Der dorsale Vagus
Er wird aktiviert, wenn Flucht oder Kampf nicht möglich sind und das ANS Signale von Lebensgefahr empfängt. Wir werden in eine Starre, in die Immobilität versetzt, wir stellen uns tot. Wir stehen dann wie neben uns, sind wie betäubt, kraftlos, fühlen nichts mehr und sind nicht mehr handlungsfähig. In dem Aktivierungsmuster des dorsalen Vagus sind oft traumatisierte Menschen verhaftet.
Die Vagusbremse
Für unsere Leistungsfähigkeit ist im Zustand der Sicherheit auch Mobilisierung notwendig. Im Sport oder bei wichtigen Präsentationen benötigen wir Stresshormone und erhöhte Fokussierung. Für das richtige Maß ist die Vagusbremse zuständig, die vom ventralen Vagus gesteuert wird. Eine zentrale Aufgabe dabei ist die Stabilisierung unseres Herzschlages. Mit Hilfe der Vagusbremse kann das System Energie mobilisieren und den Herzschlag erhöhen. Wird die Vagusbremse leicht gelöst, wird Energie freigesetzt. Bei Gefahr wird die Vagusbremse ganz gelöst und der Körper mit Energie geflutet. Das Herz rast und der Körper schüttet Stresshormone aus. Wir können uns das wie bei einer Fahrradbremse vorstellen. Wir werden schneller je mehr wir die Bremse lösen. Schließen wir die Bremse, kommen wir mit dem Fahrrad zum Stehen.
Warum uns Entspannung oft nicht gelingt
Das sich im Laufe der Evolution entwickelte ANS hat unser Leben erfolgreich gesichert. Leider erweist es sich in unserer heutigen Welt oft als nicht hilfreich. Psychische Belastungen, Geldsorgen, Konflikte am Arbeitsplatz, Zeit- und Leistungsdruck, all das kann vom ANS als Bedrohung gedeutet werden. Das sympathische Nervensystem wird aktiviert und es werden die Voraussetzungen für Kampf und Flucht geschaffen. Aber wenn wir auf der Arbeit unter Leistungsdruck stehen, fangen wir weder an zu kämpfen, noch laufen wir schnell davon. Die Stressreaktion kann nicht abgebaut werden, um uns wieder in den Zustand der Sicherheit und des Wohlbefindens zu bringen.
Oft erleben wir über mehrere Tage oder auch Monate hinweg Stress und haben Schwierigkeiten, abends zur Ruhe zu kommen oder zu schlafen. Dies wirkt wie eine Kettenreaktion. Die Aktivierung des ventralen Vagus wird zur Ausnahme und die Regulation des ANS wird gestört. Dabei ist eine gestörte Regulation des ANS bei allen stressbedingten Krankheiten wie Konzentrations- und Schlafstörungen, Depressionen, Ängsten und Gereiztheit beteiligt. Wird der Stress nicht abgebaut und weitere Stressreaktionen folgen, rutscht unser Nervensystem in die Erstarrung – ein Mechanismus, der ursprünglich nur für lebensbedrohliche Ausnahmesituationen gedacht war. Wir stehen neben uns, sind wie betäubt, kraftlos, fühlen nichts mehr und sind nicht mehr handlungsfähig.
Der Weg zu mehr Wohlbefinden
Wir sind unserem ANS aber nicht hilflos ausgeliefert. Wir können das Wissen dieser Zusammenhänge nutzen um innerer Unruhe und Angst auszugleichen, um Konflikte zu vermeiden und zufriedener werden. Alleine schon die Beobachtung der eigenen Reaktionsmuster mit den Triggern für Gefahr, Lebensgefahr und Sicherheit kann schon zu wertvollen Erkenntnissen führen, wie wir mehr Wohlbefinden erleben können. Es entsteht eine neue Sichtweise auf das WIE wir sind und nicht nur auf das WER wir sind.